Canetti, Elias - Autobiographie 02 - Die Fackel im Ohr - Lebensgeschichte 1921 by 1931

Canetti, Elias - Autobiographie 02 - Die Fackel im Ohr - Lebensgeschichte 1921 by 1931

Autor:1931
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 2014-05-24T22:00:00+00:00


Die Rivalen

Es gab noch einen im Laboratorium, der kaum je sprach, aber in seinem Fall lag es nicht an der Unkenntnis der Sprache. Er kam vom Land, ich glaube aus einem Dorf in Oberösterreich, und wirkte schüchtern und verhungert. Die ärmlichen Kleider, die er trug, immer dieselben, schlotterten an ihm, vielleicht hatte sie ihm jemand geschenkt, der sie abgelegt hatte. Aber vielleicht war er auch sehr abgemagert, seit er in der Stadt war, denn er hatte bestimmt nichts zu essen. Seine Haare leuchteten nicht, es war ein fahles, müdes Rot, das zu seinem krankhaft bleichen Gesicht paßte. Er hieß Hund, aber was war das für ein Hund, der nie den Mund öffnete, nicht einmal den »Guten Morgen« gab er einem zurück; wenn er überhaupt vom Gruß Notiz nahm, nickte er bloß mürrisch, meistens blickte er weg. Er kam auch nie um Hilfe, er borgte sich nichts aus und bat um keine Auskunft. Er fällt gleich zusammen, dachte ich, wann immer ich in seine Richtung sah. Er war gar nicht geschickt und machte sich lange an seinen Analysen zu schaffen, aber seine Bewegungen waren so knapp und dürftig, daß man ihnen nicht anmerken konnte, wie schwer er sich plagte. Er nahm zu nichts einen Anlauf, sondern gab sich einen kleinen Ruck, und kaum hatte er damit eingesetzt, war es schon zu Ende.

Einmal fand er ein Butterbrot auf seinem Platz, noch eingepackt, das hatte ihm jemand unbemerkt hingelegt. Ich hatte Fräulein Reichmann im Verdacht, die ein mitleidiges Herz hatte. Er öffnete das Paket, sah, was es enthielt, packte das Butterbrot wieder ein und ging damit von einem zum anderen. Er hielt es jedem hin, sagte gehässig: »Gehört das Ihnen?« und ging zum nächsten. Er ließ keinen aus, es war das einzige Mal, daß er zu jedem im Laboratorium sprach, aber er sagte nicht mehr als dieselben drei Worte. Keiner bekannte sich zum Paket. Als er beim letzten angelangt war und sich das letzte Nein geholt hatte, hob er das kleine Paket in die Höhe und rief mit drohender Stimme: »Hat jemand Hunger? Das kommt in den Papierkorb!« Niemand meldete sich, schon um nicht als Urheber der fehlgegangenen Tat zu gelten, Hund schleuderte das kleine Paket – plötzlich schien er überschüssige Kraft zu haben – wütend in den Papierkorb, und als einige Stimmen zu vernehmen waren, die sich getrauten, »schade« zu sagen, zischte er: »Sie können’s ja herausholen!« Dieses Maß an Artikuliertheit, aber auch an Entschiedenheit hatte ihm niemand zugetraut. So hatte sich Hund Achtung verschafft und die milde Gabe war nicht umsonst gewesen.

Wenige Tage später kam er mit einem Päckchen in den Saal, das er an die Stelle jenes Butterbrotes neben sich legte. Eine Weile ließ er es ungeöffnet liegen und machte sich an einige seiner langen, unnützen Verrichtungen. Ich war nicht der einzige, der sich fragte, was das Päckchen enthielt. Die Vermutung, daß er sich selbst ein Butterbrot verschafft hatte und nun vorführen wollte, ließ ich bald fallen, das Päckchen sah aus, als ob es etwas Eckiges enthielte. Dann nahm er



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